Vor wenigen Wochen erhalte ich eine Nachricht. Eine sehr gute und liebe Freundin von uns schreibt mir, dass sie seit mehreren Monaten in einer Beziehung mit einer anderen Frau ist und das bislang geheim gehalten hat. Lediglich ihrer engsten Familie gegenüber konnte sie sich öffnen. In ihrer WhatsApp-Message schreibt sie, Angst zu haben „verurteilt und abgelehnt zu werden“, weil sie die Erfahrung gemacht habe, dass „viele damit nicht umgehen können“.

Damit?

Ich lese ihre Nachricht und während ich mich noch über die positive Nachricht freue, dass sie in einer glücklichen Beziehung ist, stolpere ich über das Wort „damit“. Ein Wort, das sie beiläufig in einem Nebensatz als Synonym einstreut, lässt mich nachdenklich werden… „Damit“… Womit? Was beim schnellen lesen vielleicht kaum auffallen mag – es schwingt eine gewisse Angst, Traurigkeit, Schwere und Hilflosigkeit mit.

In Bezug auf ihre Situation ist es klar, dass es ihr um das Thema Homosexualität bzw. Bisexualität geht. Worte, die alleine schon deshalb, weil sie einen „nicht-Standard“ benennen bei vielen Menschen stark vorbelastet sind.

Verbundenheit und Zugehörigkeit

Wir Menschen haben von Natur aus Angst vor Ablehnung. Verbundenheit und Zugehörigkeit sind psychische Grundbedürfnisse. Der deutsche Psychologe und Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun bricht alle psychischen Grundbedürfnisse auf vier Kernbedürfnisse herunter:

  • wertvoll sein
  • geliebt sein
  • frei sein
  • verbunden sein

All das sind Bedürfnisse, die wir, genau wie die physischen Grundbedürfnisse wie essen, trinken, schlafen, atmen und Wärme (Maslow), stillen wollen. Ob bewusst oder unbewusst – Jeder von uns strebt danach diesen Bedürfnissen gerecht zu werden. Selbst wenn wir bewusst und kontrolliert auf eine der Bedürfnisse verzichten würden, hätte das womöglich bereits negative Auswirkungen auf unser Leben. Wenn wir uns aber über diese Bedürfnisse nicht bewusst sind, so können wir auch keine Maßnahmen einleiten. Die große Gefahr hierbei: Wenn wir unsere psychischen Grundbedürfnisse über einen längeren Zeitraum nicht ausleben, so wird unser Innerstes mit großer Wahrscheinlichkeit krank werden und verschiedene Arten von Depressionen können die Folge sein.

Idealfall selbstbewusste Selbstverwirklichung

Doch wie können wir diesen „intrinsischen“ Bedürfnissen Zuwendung geben? An aller erster Stelle steht, sich darüber bewusst zu werden, dass jeder von uns von Natur aus wertvoll, geliebt, frei und verbunden ist. Ganz ohne unser zutun. Wir sind es einfach. So wie jedes andere Lebewesen. Ganz natürlich und ohne wenn und aber. Und hierfür müssen wir uns selbst die Erlaubnis geben, diese Tatsache als wahr anzunehmen. Gehe doch einmal auf die Suche nach kleinen Bestätigungen in deinem Leben und notiere dir täglich mindestens 3 Gründe weshalb du wertvoll bist, einen Monat lang. Oftmals höre ich an dieser Stelle Einwände wie: „Ja, aber dann rede ich es mir ja ein…“. „Korrekt“ antworte ich dann. „Bislang hast du vielleicht einfach nach Bestätigungen gesucht, warum du nicht wertvoll sein könntest und das hast du dir genauso eingeredet.“ Es ist unser Fokus, der unser Leben bestimmt. Wenn du diese kleine Aufgabe machst, wirst du in nur einem Monat ganz automatisch ein anderes Selbstverständnis für dich entwickeln. Und so können wir das Erfüllen jeglicher psychischer Grundbedürfnisse erst einmal in unser Leben einladen.

Als zweites kommt vor allem auch Achtsamkeit ins Spiel: Denn achtsam mit seinen Bedürfnissen, Wünschen und Gefühlen umzugehen, ist der Mutterboden für ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben. Sind die Grundlagen geschaffen und haben wir die für uns richtige Konzentration an Selbstvertrauen, Selbstliebe und -bewusstsein angereichert, dann geht es in unserem Leben um Umsetzung und Verwirklichung. Selbstbewusste Selbstverwirklichung setzt also erfüllte Grundbedürfnisse voraus. Klappt es vielleicht nicht mit einem Projekt, deiner Selbstständigkeit oder der Verwirklichung eines anderen Traumes? Nimm dir den Druck heraus, gehe noch einmal einen Schritt zurück und frage dich: Was wünsche ich mir? Wonach sehne ich mich? Gehe am besten in die Natur und in die Stille – raus aus den Gedanken, die etwas durchdrücken wollen. Wenn wir mit dem Kopf durch die Wand wollen, hat das meist schmerzhafte Folgen und es trägt wenig Früchte.

Selbstverwirklichung vs. gesellschaftliche Normen & Standards

Die Gründe, weshalb unsere Freundin länger dafür gebraucht hatte sich zu öffnen, sind natürlich vielschichtiger. An der Spitze steht die Angst vor Ablehnung. Darunter reihen sich eine Mischung aus eigener Unsicherheit, Selbstfindung, ausprobieren, Abenteuer, Provokation, Leidenschaft, Sehnsucht, Geborgenheit und einiges mehr. Das Leben ist manchmal kompliziert. Am Ende ist es auch völlig egal – es ist was es ist. Es gibt keinen Grund dafür es zwanghaft benennen und analysieren zu müssen.

Eine Sache liegt mir jedoch am Herzen. Denn die Angst vor Ablehnung und Verurteilung durch andere ist auch ein Produkt unserer Gesellschaft. Gesellschaftliche Dogmen und Standards geben uns zwar Orientierung und ein gemeinsames Verständnis, jedoch spiele ich hier vielmehr auf Überzeugungen und Glaubenssätze an, die negative Auswirkungen haben. Negative Auswirkungen deshalb, weil sie dazu führen, dass Menschen sich z.B. in ihrer inneren oder äußeren Freiheit einschränken. Oder, weil sie für bestimmte Bedürfnisse verurteilt werden könnten. Natürlich wäre das Problem nicht existent, wenn eine Person innerlich komplett frei wäre. Manchmal braucht es allerdings auch einfach ein positives bzw. toleranteres Umfeld, in dem wir uns fallen lassen und öffnen können, um uns innerlich zu befreien.

Oftmals handelt es sich um traditionelle oder konservative Denkweisen, die so sehr in die Menschen übergegangen sind, dass sie einfach nicht mehr hinterfragt werden. Wir kommen gar nicht mehr auf die Idee, dass wir es hinterfragen könnten. Wenn andere jedoch etwas tun, was diesem Denkmuster widerspricht, dann reagieren wir mit Kopfschütteln, weil in uns Selbst irgendeine Form der Angst vor Ablehnung getriggert wird. Anstatt uns damit auseinanderzusetzen und an uns zu arbeiten, neigen wir oft dazu Verurteilungen und Wertungen auszusprechen und unseren persönlichen Unmut, vielleicht sogar Groll, Hass oder Abneigung zu kommunizieren, indem wir hinter vorgehaltener Hand lästern oder schimpfen. Wenn du dich also dabei erwischst, wie du jemanden für etwas verurteilst, dann frage dich: „Was hat das mit mir zu tun?“

Wir wurden beispielsweise oft damit konfrontiert, dass wir „doch endlich einmal bei einer Sache bleiben“ müssten. Dabei wollten wir zu diesem Zeitpunkt möglichst viel ausprobieren und Erfahrungen sammeln. Wir waren neugierig und hatten Lust auf Abenteuer. Und ehrlich gesagt ist es immer noch so. Wir lieben es einfach Dinge anders zu machen, uns selbst herauszufordern. Doch die Äußerungen, die uns gegenüber getroffen wurden, waren im Kern lediglich der Ausdruck eines eigenen Weltbildes oder auch Rechtfertigungen für die eigene Lebenssituation. Vor kurzem haben wir gemeinsam einen Film geschaut, indem der Protagonist sagte: „Für ein Leben entscheidet man sich nicht – man lebt eins“.

Gibt es vielleicht auch gewisse Normen und Standards in deinem Leben, die dir die Gesellschaft oder du dir selbst unbewusst auferlegt hast und du dich dadurch in deiner freien Entfaltung selbst manipulierst? Gibt es etwas, was du dir nicht erlaubst? Welches Dogma hast du dir auferlegt? Beobachte und notiere sie und lade dich selbst dazu ein sie zu hinterfragen.

Selbstverwirklichung wird bei manchen Menschen bereits mit Egoismus und Rücksichtslosigkeit gleichgesetzt. Oft und gerade auch deshalb, weil andere sich selbst nie erlaubt haben ihre Bedürfnisse und damit sich selbst zu verwirklichen. Wenn du dir damit schwer tust „Selbstverwirklichung“ als Teil deines Lebens zu integrieren, dann versuche es gerne einmal mit einem anderen Blickwinkel: Selbstverwirklichung bringt Seelenfrieden, Glück und Erfüllung mit sich – Energie, die du von Natur aus in dir trägst und, die durch das Verwirklichen deiner Wünsche und Ideen positive Auswirkungen auf dich, auf dein Leben und auf dein gesamtes Umfeld haben wird.

Der Pfadfinder

Selina hatte während ihrer Schulzeit einen Freund, der bei den Pfadfindern war. Da Selina von Natur aus aufgeschlossen ist, war das für sie weder untypisch noch seltsam. Für sie war er einfach bei den Pfadfindern und sie machte sich eigentlich nie Gedanken darüber. Am Ende ihrer Schulzeit kam der Junge zu ihr und bedankte sich, dass sie ihn nie dafür bewertet hat. Selina verstand erst überhaupt nicht, was er damit meinte. Doch dann wurde es ihr klar: Die meisten Jungen spielen Fußball, Handball, Turnen oder sind bei der Feuerwehr. Jugendliche, die Mitglieder in anderen Vereinen sind, werden belächelt und mancherorts sicher auch gemobbt – sie machen Dinge anders und triggern deshalb die Angst vor Ablehnung in anderen. Aus Angst davor selbst abgelehnt zu werden, beginnen sie, sich über Pfadfinder, Musiker oder andere weniger populärer Freizeitbeschäftigungen lustig zu machen.

Eigene Standards setzen

Im Leben geht es nicht darum Regeln zu befolgen. Im Leben geht es darum sich zu entfalten und mehr von sich nach draußen zu bringen. Wie kann etwas falsch sein, solange die eigenen Handlungen in Liebe, Respekt und Wertschätzung gewählt werden? Macht es Sinn das Licht in dir zu dimmen, um die Unzulänglichkeiten anderer Personen zufrieden zu stellen? Es geht nicht darum, anderen unverblümt deine eigene Wahrheit überzustülpen oder andere zu dressieren. Vielmehr geht es darum Verständnis aufzubringen, tolerant zu sein, voneinander zu lernen, seinen eigenen Weg zu gehen und dabei respektvoll mit anderen Menschen umzugehen. Insbesondere dann, wenn es dir vielleicht besonders schwer fällt. Die größte Kunst besteht für die meisten wahrscheinlich darin, sich jederzeit rücksichtsvoll zu verhalten und dabei seinen eigenen Weg zu gehen – oder anders ausgedrückt: Gesellschaftliche Werte einzuhalten und gleichzeitig eigene Standards zu setzen.

Vielleicht fällt es uns leichter, wenn wir verinnerlichen was wir sind: wertvoll, geliebt, frei und verbunden.

Aroha & Namasté

Alex